Nele hat Kummer. In der Schule haben die anderen Kinder sie ausgelacht. Mama kann sie trösten, und der Psalm 73 hilft ihr dabei.

Heute hat Mama Zeit und holt Nele von der Schule ab. Das mag Nele gerne. Da haben die beiden dann Muse, auf dem Heimweg ausführlich miteinander zu reden.

Und heute hat Nele einen großen Redebedarf.

Das ist nicht immer einfach so in der Schule. Nele findet Buchstaben doof. Zahlen mag sie viel lieber. Doch ohne Buchstaben geht es in der Schule überhaupt nicht. Selbst wenn man es mit Zahlen zu tun hat, muss man immer erst den Satz, der darübersteht, lesen: „Addiere die Zahlen, zum Beispiel“.

Mama weiß das mit den Buchstaben natürlich.

Doch heute regt sich Nele wirklich auf: „Nicht nur, dass wir den ganzen Vormittag gelesen und geschrieben haben, es war einfach furchtbar viel. Nein, auch noch, wie die anderen in der Klasse mich ausgelacht haben, weil ich den Satz an der Tafel nicht ordentlich vorlesen konnte. Am liebsten wäre ich weggelaufen.“ Nele seufzt tief.

Mama drück Nele die Hand und nickt: „Das kann ich gut verstehen. Auslachen ist doof!“

„Ja, auslachen ist dooooof!“, wiederholt Nele. „Und gemein ist es auch, dass die anderen keine Schwierigkeiten mit den Buchstaben haben!“ Sie bleibt stehen und stapft mit dem Fuß auf.

„Was mache ich den falsch, dass ich die Buchstaben nicht beherrsche? Ich mache meine Hausaufgaben wie alle anderen auch. Ich übe jeden Tag mit dir lesen. Und es klappt einfach nicht. Das finde ich so gemein!“ Nele würde am liebsten vor Ärger und Kummer und Wut in Tränen ausbrechen.

Die Mama merkt das.

„Komm Nele, wir kaufen uns da drüben ein Eis und setzten uns dann auf die Bank dort. So kalt ist es noch nicht.“

Genauso machen sie das. Das Eis kühlt etwas die Wut und den Ärger und den Kummer von Nele. Und sie wird ruhiger.

Da fängt die Mama das Reden an: „Weißt du, das ist oft so, dass man die anderen anschaut und denkt: ‚die haben es leicht!‘ Vielleicht haben sie es wirklich insgesamt leichter oder sie haben es halt in der einen Sache leichter und an anderen Stellen schwerer. Das können wir nicht wissen. Wir wissen nur, wo wir es schwer haben. Du hast es mit den Buchstaben schwer und das macht dich wütend und traurig. Das kann ich sehr gut verstehen.“

Nele nickt und leckt am Eis.

„Man kann nicht wirklich ergründen, warum das so ist, wie es ist, das Leben. Wir können gemeinsam was dagegen tun und das machen wir auch. Du machst deine Hausaufgaben ordentlich und wir holen uns viele schöne Bücher aus der Bibliothek und du liest sie mir vor. Was waren da nicht für witzige und spannende Geschichten dabei!“, erinnert sich die Mama.

„Und“, redet die Mama weiter: „wenn du dir überlegst, wie viele Schreibfehler du früher gemacht hast, dann siehst du ja, dass es immer besser wird, halt in kleinen Schritten. Ohne Geduld und Mühe geht da gar nichts.“

Nele nickt. Das weiß sie schon, aber wenn so ein Schultag wie heute ist, dann hat sie das schnell vergessen. Und Ärger und Wut, Kummer und Leid halten Einzug in ihr und sie ist dann traurig.

Die Mama weiß das.

Und die Mama weiß noch mehr. Sie weiß, dass es den Menschen immer wieder so geht, dass sie nicht verstehen, was sie erleben, warum das so ist.

„Du Nele, da kenne ich einen Psalm aus der Bibel, da geht es einem Menschen ein bisschen so ähnlich wie dir. Willst du das hören?“

Nele nickt!

„Okay“, sagt die Mama, „dann lass uns heimgehen, da brauche ich die Bibel dazu, auswendig kann ich das leider nicht.“

Also machen sich die beiden auf den Heimweg.

Zu Hause angekommen, muss Mama erst ihre Einkäufe verräumen und die Suppe heiß machen.

Zwischendrin holt sie aber schon mal die große rote Bibel aus dem Regal und schlägt auf dem Wohnzimmertisch den Psalm 73 auf. Und liest kurz rein.

„Wenn du willst, Nele, kannst du da ja schonmal reinlesen.“

Will Nele das? Schon wieder Buchstaben. Aber neugierig ist sie auch. Wenn da, was in der dicken Bibel steht, was mit ihr zu tun hat. Erst zählt sie mal die Zeilen. Zahlen mag sie ja. 63 Zeilen! Poh ist das viel.

Doch dann bliebt ihr Blick bei Vers 3 hängen: ‚Ich war neidisch auf die Angeber, als ich sah, wie gut es denen ging.‘

Da muss Nele nicken. Sie war und ist neidisch auf die Angeber, die so gut mit den Buchstaben können.

Mit dem Satz im Kopf geht sie zur Mama in die Küche. „Es stimmt, was dasteht: ‚Ich war neidisch auf die Angeber, als ich sah, wie gut es denen ging“, erzählt Nele.

„Ja“, sagt Mama, „ich erinnere mich wieder. Da erzählt ein Mensch, dass er sich abmüht, um das Richtige zu tun und die anderen angeben und prahlen und falsche Sachen erzählen. Und der Mensch, der den Psalm gedichtet hat, wird immer hilfloser. Kann es denn sein, dass er falsch liegt? Er versteht nicht, warum es so ist, wie es ist. Doch dann hat er eine großartige Erkenntnis. Er bleibt so, wie er ist. Die Angeber, die gegen Gott reden, und scheinbar ein wunderbares leichtes Leben führen, können ihn nicht beeindrucken. Der Psalmdichter weiß für sich, er ist auf dem richtigen Weg. Er will Gott nahe sein mit seinem Reden und Tun. Er will sich nicht von den anderen durcheinanderbringen lassen. Er weiß, Gott nahe zu sein, ist gut für ihn. Egal, was die anderen sagen.“

Mama hat viel erzählt und dabei die Suppe gerührt.

Nele hat zugehört und nachgedacht. „Also andere Menschen ärgern sich auch über die Angeber“, sagt sie.

„Klar“, sagt Mama. „Das geht mir auch manchmal so. Und wir müssen uns überlegen, wer beeindruckt uns. Die Angeber oder den Weg, den wir gehen wollen oder müsse. Du musst mit den Buchstaben üben, das weißt du. Und wenn du dich von den Angebern durcheinanderbringen lässt, hilft dir das nichts. Und noch was weißt du. Es ist der richtige Weg. Dein Lesen wird immer besser, langsam, aber sicher. Stolz kannst du sein, auf das, was du schon erreicht hast.“

Von Neles Zorn und Kummer, von ihren Tränen ist nichts mehr da. Sie ist getröstet.

Nun steht sie in der Küche und deckt die Teller auf.

Ja, sie kann stolz auf sich sein.

Und nächste Woche denkt Nele weiter über Kummer und Trost nach.

Psalm 73 i.A.

5.11.2022

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