Wieso gibt es verschiedene Sprachen auf der Welt? Das hat mit einem Turm zu tun, erzählt die Thora.
"Du!", setzt Jedida zur Frage an, als sie ihre Mutter sieht. "Du, kannst du mir erklären, warum immer die Mädchen Wasserholen müssen und warum es Menschen gibt, die nicht unsere Sprache sprechen?" So, jetzt ist die Frage raus. Die Mutter lächelt wie immer, denn so kennt sie ihr Jedida, viele Fragen, möglichst solche, die nichts miteinander zu tun haben. "Also das mit dem Wasserholen kann ich dir ja gerade noch erklären, aber die Frage mit den verschiedenen Sprachen, die hebst du dir besser für den Vater auf", versucht die Mutter eine Antwort. "Dann erklärt mir doch bitte mal das mit dem Wasserholen. Irgendwie ist es doch ungerecht. Nur wir, Mädchen und Frauen, gehen zum Brunnen. Und wenn sich wirklich mal ein Mann an den Brunnen verirrt, dann kommt er als Erstes dran und eine Frau oder ein Mädchen muss ihm auch noch das Wasser schöpfen, nicht dass er nasse Hände und Beine bekommt. " Jedida ärgert sich darüber, das ist ihr genau anzumerken. Die Mutter versucht sie zu beruhigen: "Aber Jedida du kennst doch unsere Thora, da weißt du doch, dass immer die Frauen zum Brunnen gegangen sind. Und als Jakob endlich bei seiner Verwandtschaft, nach seiner Flucht vor Esau, ankommt, da macht er erstmal Rast am Brunnen und findet dann die Familie, die er sucht und die Liebe seines Lebens. Es war das Mädchen, das ihm das Wasser geschöpft hatte. Man weiß nie, wozu es gut ist, das Wasserschöpfen", sagt Mutter.
Nun, fürs Erste gibt Jedida Ruhe, doch ihre zweite Frage ist ja noch gar nicht beantwortet.
Als der Vater zum Abendessen ankommt, wird er sofort von Jedida bestürmt: "Vater, wieso gibt es so viele verschiedene Sprachen?" "Wie kommst du denn auf diese Frage?", Jedida. "Ganz einfach, Vater, in der Stadt wird es immer voller, das Erntefest steht bevor. Dazu kommen Menschen aus Griechenland und vielen anderen Ländern und alle sprechen nicht unsere Sprache. Woher kommt das? Es ist ja auch ziemlich kompliziert. Viel einfacher wäre es, eine Sprache zu sprechen, oder?" Der Vater nickt: "Ich kenne eine Geschichte aus unserer Thora dazu. Machen wir es wie immer. Ich darf mich zuerst satt essen? Dann erzähle ich. Abgemacht?" Jedida nickt. Sie weiß, jetzt muss sie sich noch eine kleine Weile gedulden, doch dann wird sie mit einer Geschichte vom Vater für ihre Geduld belohnt.
Endlich ist der Vater satt und die Geschichte kann losgehen. Noch einen frischen Schluck kühles Wasser in den Becher - vorhin von Jedida persönlich geholt - und dann lehnt er sich an Wand und fängt an.
"Damals, als unsere Geschichte beginnt, damals hatten alle Menschen nur eine einzige Sprache. Die Geschichte steht ganz am Anfang unserer Bibel, der Thora. Sie ist nur ganz kurz. Doch, sehr interessant. Damals gab es Menschen, die großartige Handwerker waren. Keine Stadtmauer, kein Königspalast, keine Tempel für eine Gottheit waren zu schwierig für sie. Sie dachten sich immer wieder neue Verzierungen und Ornamente aus. Auch der Grundriss wurde immer wieder variiert. Sie hatten wirklich viele geniale Ideen. Und sie unterstützten sich gegenseitig. Was der eine nicht hinbekam, übernahm der andere. Sie waren wirklich spitze. Und dann hatten sie gemeinsam eine Idee. Sie wollten einen Turm bauen. Nicht einen Turm, der zur Stadtmauer passte, von dem aus man sehen konnte, wer auf dem Weg zur Stadt war. Nein, ein Turm, riesig. Er sollte bis zum Himmel reichen. Manch vorwitziger Handwerker meinte: 'Wollen wir doch mal sehen, wer da im Himmel wohnt!' So machten sie sich an das Werk. Es wurde eine riesige Baustelle. Es mussten Ziegel aus Lehm gebrannt werden. Steine in die passende Größe zurecht gehauen werden. Mörtel musste angemischt werden. Viele, viele helfende Hände wurden gebraucht. Am Anfang war alles noch ganz einfach. Die ersten zwei, drei Stockwerke wuchsen schnell heran. Doch dann wurde es mühseliger. Alles musste mit Seilen außen hochgezogen werden. Innen gab es Leitern und Podeste, auf denen die Leitern Halt fanden. Du kannst dir vorstellen, dass es ganz schön anstrengend ist, erstmal 5 Stockwerke innen auf Leitern hochzukrabbeln, dann auf der Mauer zu stehen und die nächsten Steine die 5 Stockwerke hochzuziehen. Da war schon viel Muskelkraft verbraucht und noch kein neuer Stein auf die Mauer gesetzt. Zunächst kamen die Leute an der Baustelle vorbei und staunten. Manche mussten schon den Kopf in den Nacken legen, um den Bauarbeitern bei ihrer Arbeit zuschauen zu können. Zunächst waren die Zuschauer begeistert. Das spornte die Arbeiter natürlich an. Doch dann als es mühevoller wurde, wurde es auch gefährlicher, auch für die Zuschauer. Da kam es schon mal vor, dass jemanden beim Hochziehen der Steine die Kraft verließ und er das Seil nicht mehr halten konnte. Dann stürzten die Steine nach unten, auf die Menschen, die eigentlich für den Nachschub oben sorgen sollten und auf die Zuschauer auch. Da kam es schon vor, dass es Verletzte gab und gelegentlich auch einen Toten. Die Zuschauer besahen sich die Aktion und wurden nachdenklich: 'Ob das wohl gut geht', tuschelten sie miteinander. 'Nicht, dass es noch ein großes Unglück gibt und vielleicht alles einstürzt?', überlegten die Zuschauer. Auch mancher Bauarbeiter machte sich so seine Gedanken. Es war ja auch eine sehr anstrengende Arbeit und gefährlich war sie auch. Und noch etwas kam dazu. Sie hatten schon viele Stockwerke gebaut, aber den Himmel hatten sie noch lange nicht erreicht. Manche wurden nachdenklich und dachten zunächst bei sich selbst, das Vorhaben vielleicht aufzugeben."
Der Vater machte eine Pause. Jedida nutzte die Zeit, um gleich mal wieder zu fragen: "Und wie ist es nun gekommen, dass die Menschen verschiedene Sprachen sprechen?"
"Jedida, dazu musst du das Ende der Geschichte abwarten, da wird das dann erzählt. Doch so spät wie es heute schon ist, musst du dich bis morgen Abend gedulden. Dann erzähle ich dir weiter, versprochen."
Jedida findet das gar nicht gut. Doch sie weiß, wenn ihr Vater das so sagt, dann kann sie ihn nicht überreden weiterzuerzählen.
Wohl oder übel rollt sie ihre Schlafmatte aus und macht sich fertig zum Schlafengehen. Dann liegt sie noch eine Weile wach auf ihrer Matte. Mit ihren zwei Fragen im Kopf: "Warum gehen nur die Mädchen und Frauen zum Wasserschöpfen und warum gibt es so viele verschiedene Sprachen auf der Welt - das ist doch unpraktisch?"
Jedida ist mit ihren zwei Fragen eingeschlafen und mit ihnen am nächsten Tag wieder aufgewacht. Nachdem sie, wie jeden Morgen, der Mutter im Haushalt geholfen hatte - sie hat auch wieder Wasser vom Brunnen geholt - besucht sie ihre Freundin Dina. Mit der redet sich gleich mal über ihre Frage mit dem Wasserholen. Dina hat sich dazu noch gar keine Gedanken gemacht. Sie ist der Meinung: "Mädchen holen Wasser, das war so und das ist so, und das wird so bleiben!" Jedida befürchtet, dass es wirklich so ist und so kommen wird, doch sie findet es einfach ungerecht. Sonst geben Jungs und Männer immer damit an, dass sie die stärkeren sind, da hätten sie doch genug Kraft, um einen gefüllten Wasserkrug aus dem Brunnen zu ziehen und heim zu tragen.
Mit ihren zwei Fragen im Kopf verbringt Jedida den Tag. Sie wartet auf den Abend und Vaters Fortsetzung der Geschichte.
Nächste Woche erzähle der Vater Jedida weiter von der Baustelle für den großen Turm, der bis zum Himmel reichen soll.
1. Mos 11, 1-9
4.5.2024