Aus dem großen Turm wird nichts. Gott bringt die Sprachen durcheinander.
Jedida wartet ungeduldig auf den Vater. Er will ja heute weitererzählen, was auf der Baustelle beim großen Turm los ist. Ob die Handwerker es wohl schaffen werden, den Turm bis zum Himmel zu bauen? Jedida ist gespannt. Und der Vater lässt sich Zeit, bis er endlich zum Abendessen kommt. Jedida wird schon ganz kribbelig. Und als er dann endlich da ist, isst er erstmal ganz gemütlich zu Abend. Jedida weiß, wenn sie wirklich heute noch eine Geschichte erzählt bekommen möchte, dann kann sie jetzt nicht drängeln. Sie versucht, geduldig zu sein. Es gelingt ihr und endlich ist der Vater fertig. Wieder schenkt er sich noch einen Becher voll Wasser - das wie immer Jedida geholt hat -, lehnt sich an die Wand und beginnt: "Letzte Woche hatte ich dir ja schon von der großen Baustelle erzählt. Sie war nicht nur groß, sondern sie wurde von Tag zu Tag auch gefährlicher. Je höher die Bauarbeiter kamen, desto öfters passierten Unglücke mit den Steinen, die nicht oben an der Baustelle ankamen, sondern abstürzten. Die neugierigen Zuschauer kamen schon nicht mehr, und wenn, dann blieben sie im sicheren Abstand zur Baustelle. Ja, man konnte es schon erkennen, es wurde ein sehr großer Turm, sowas hatte man noch nirgends gesehen. Und dann geschah etwas Ungewöhnliches, so erzählt es die Thora, Jedida. Gott hat die Baustelle besucht. Er, so kann man es nachlesen, kam vom Himmel herab und wollte sich den Turm ansehen, den die Menschen da bauten. Er schaute genau hin. Er hörte auch genau zu. Und er machte sich so seine Gedanken. Er wog ab und dann hatte er sich eine Meinung gebildet. 'Diese Menschen, die alle die gleiche Sprache sprechen und so geschickt mit ihren Händen sind und so gute Baupläne machen können, die können alles erreichen. Sie werden tun, was sie wollen.' Und dann hatte er eine Idee: 'Kommt, lasst uns miteinander vom Himmel herabsteigen und ihre Sprache durcheinanderbringen! Sodass sie sich nicht mehr verstehen können.' Und so kam es."
"Wie, und so kam es?", fragte Jedida nach. "Wie kam es?"
"Wie das kam, steht nicht in der Thora", sagte der Vater. Ich stelle mir das so vor. Eines Morgens kommen die Arbeiter wieder an die Baustelle. Einer ruft: 'Ich brauche Steine da oben, gleich werfe ich euch ein Seil runter, verschnürt sie gut, dann ziehe ich sie hoch.' Dann dreht er sich um und klettert die vielen Leitern hoch. Oben angekommen wirft er das eine Ende des Seils nach unten, doch die, die unten stehen, machen nichts. Sie stehen da wie Fragezeichen, zucken mit den Schultern und fuchteln mit den Armen. Der, der oben steht, kann es nicht glauben. Hat er nicht gerade ausführlich erklärt, was er braucht und will. Es hilft alles nichts. Unverrichteter Dinge steigt er wieder die vielen Leitern herunter. Unten angekommen, landet er im Chaos. Die Arbeiter schreien sich laut an. Der, der von oben kam, versteht kein Wort. Er wendet sich an einen, mit dem er schon viel zusammen gemacht hat. 'Was ist denn hier heute los?', fragt er. Doch eine Antwort bekommt er nicht. Seltsame Worte kommen aus dem Mund seines Kollegen. Er versteht nichts. Also fragt er jemand anderen. Wieder dasselbe. Er probiert es noch ein paarmal - keine verständliche Antwort. Die Menschen werden immer aufgeregter und wütender, aber keiner kann einem was erklären. Ich stelle mir vor, dass sie erschöpft nachhause gelaufen sind und erstmal geschlafen haben. Der nächste Tag brachte nichts Neues. Der Übernächste auch nicht. An der Baustelle passierte nichts. Nach ein paar Tagen begannen die ersten Arbeiter, ihr Bündel zu schnüren und sich mit ihren Familien auf den Weg zu machen. Aus der Traum vom großen Turm, der bis zum Himmel reichen soll. Die Thora erzählt, dass Gott vom Himmel aus zugeschaut hat. Die vielen Sprachen sorgten für ein großes Durcheinander, das sah Gott und auch die Ersten, die vom Turm weggingen. Gott sorgte dafür, dass viele Menschen weggingen und sich neue Orte suchten und so kamen die vielen Sprachen in die Welt. Nach einiger Zeit war es ganz normal, dass andere Menschen aus anderen Städten und Ländern unterschiedliche Sprachen hatten. Manchmal erzählte man sich noch von dem Traum, einen Turm bis zum Himmel zu bauen. Das war das, was von dem Traum übrigblieb. Die Geschichte dazu."
Jedida hatte aufmerksam zugehört. "Gott hat die vielen verschiedenen Sprachen gemacht? Ja, warum denn?"
Der Vater trank noch einen Schluck: "Schwierige Frage, Jedida. So wie ich die Geschichte verstehe, wollte er zeigen, dass er größer ist als die größten Pläne der Menschen. Er wollte zeigen, dass er mächtiger ist als alle mächtigen Gedanken aller Menschen. So erkläre ich mir das. Vielleicht muss man mal einen Schriftgelehrten fragen, wie er das so versteht. Das kann ich ja mal machen, wenn ich wieder im Tempel bin."
Jedida ist nachdenklich. So eine Geschichte von Gott hat sie noch nie gehört. Gott bringt was durcheinander. Sonst ordnet er doch immer und macht was wieder gut. Sonst ordnet er doch immer und macht was wieder gut. Das hatte der Vater doch erst bei der Schöpfung erzählt. Gott scheidet Licht von Finsternis, er trennt Himmel und Erde, er sammelt das Wasser und das Trockene, er hängt die Leuchten in den Himmel für Tag und Nacht. Ja, so hat Gott die Welt gut geordnet. Und wie oft hat sie schon den Psalm gesungen vom Gott, der wie ein Hirte ist und auf die Menschen aufpasst, ihnen zeigt, wo es frisches Wasser gibt und ihnen beisteht im finsteren Tal.
Jedida hat viel zum Nachdenken, als sie ihre Schlafmatte herrichtet und sich hinlegt.
Alles gar nicht so einfach. So ein Leben ist gar nicht so einfach. Und dann fiel ihr ihre Frage von gestern und heute morgen wieder ein: "Warum holen nur die Mädchen und Frauen Wasser am Brunnen und nicht die Jungen und Männer?" Eine scheinbar einfache Frage und bislang hat sie noch keine einfache Antwort darauf bekommen.
Das mit dem Einschlafen ist heute für Jedida nicht so leicht. Sie ist ein wenig durcheinander. Kein Wunder bei dem Ende der Geschichte vom großen Turm und wie die unterschiedlichen Sprachen in die Welt kamen.
Nächste Woche macht Jedida eine überraschende Erfahrung. Menschen unterschiedlichster Sprachen hören einem Mann zu und verstehen ihn. Wie kommt jetzt das?
1. Mos 11, 1-9
11.5.2024